Presseartikel
DER TAGESSPIEGEL
Senioren in Berlin
Beziehungsstatus: Single
05.04.2012 Von Armin Lehmann
Immer in Gesellschaft bleiben. Dieses ungeschriebene Gesetz für alleinstehende Senioren beherzigt Gerda, auf dem Bild zusammen mit der Band "Simone und ihr flotter Dreier" im Kastanienwäldchen
Sechs Tage in der Woche sammelt sie ihre Kräfte, diszipliniert und mit Vorfreude. Am siebten Tag geht sie hinaus ins Leben. Es ist aufregend, voller Menschen und Musik, es katapultiert sie in andere, längst vergangene Zeiten. Dieses Leben, das sie sich immer mittwochs gönnt, ist so schön, dass sie davon nicht genug bekommen kann.
In ein paar Tagen wird sie 90.
Gerda, die ihren Nachnamen für diese Geschichte nicht verraten hat, sitzt auf einem Stuhl, gleich neben der Live-Band "Simone und ihr flotter Dreier", ihr Stammplatz im Hinterzimmer einer von außen betrachtet ganz und gar unspektakulären Eckkneipe.
Simone und ihre Band spielen Wirtschaftswundermusik, fröhlichen Swing und Rock ’n’ Roll aus den 50er und 60er Jahren. Über das abgewetzte Parkett tänzeln Pärchen an Gerdas Stuhl vorbei, plötzlich hält Simone ihr das Mikrofon hin, und die kleine Frau, deren Rücken die Osteoporose in die Waagerechte gezwungen hat, singt: "Cindy, oh Cindy, dein Herz muss traurig sein, der Mann, den du geliebt, ließ dich allein."
Das Kastanienwäldchen in Alt-Reinickendorf, Residenzstraße, gleich gegenüber vom kleinen Schäfersee gelegen, ist keine gewöhnliche Eckkneipe. Fast jeden Tag ein Event, montags Western und Country, dienstags Karaoke, mittwochs Petticoat-Musik, donnerstags Rock ’n’ Roll und am Wochenende zweimal Disco zum Partymachen für die Jugend. Die Kneipe ist eine Art Flüchtlingslager für Menschen, die sich nach unkomplizierter Gesellschaft sehnen. Draußen im Kiez, dicht an den Wedding gepresst, steigt die Kriminalitätsrate und die Einkommensgrenzen rutschen herab.
Sie kommt seit Jahren in diese Kneipe. Hier hat sie das Gefühl: Alles ist gut
Das Gebäude des Kastanienwäldchens existiert seit 150 Jahren, es garantiert Stabilität und Konstanz im rastlosen Alltag. Einst war es das Schäferhaus, heute hütet der Wirt und ehemalige Vorsitzende der Partei Die Grauen, Norbert Raeder, 42, eine andere Herde: Es sind Leute, wie man sie noch aus Romanen von Hans Fallada oder Alfred Döblin kennt, ehrliche Leute, manchmal auch strauchelnde Existenzen, vom normalen Leben Gezeichnete, die zu Hause sind in den neuen Untiefen einer prekär gewordenen Klein-Bürgerlichkeit rund um die Residenzstraße und den Franz-Neumann-Platz. Das sind Norbert Raeders Schäfchen, und in seiner Kneipe können sie so sein, wie sie sind. Geht draußen auch vieles den Bach runter, zerbrechen Freundschaften, stirbt der Partner, macht die Firma dicht - im Kastanienwäldchen dürfen die Gäste sich dem beruhigenden Gefühl hingeben: Alles ist gut.
Es ist genau diese Atmosphäre einer lustig-lauten Gesellschaft, die Gerda gesucht hat wie ein Überlebenselixier. Sie ist allein. Schon seit so vielen Jahren, dass sie aufgehört hat, sie zu zählen. Aber hierher schleppt sie sich, von Heiligensee, im äußersten Nordwesten Reinickendorfs gelegen, erst mit dem Bus, dann mit der U-Bahn, ganz auf sich gestützt. So will sie es. Zurück wird sie gebracht, auch wenn sie es nicht gerne zulässt, sie gibt lieber statt zu nehmen. Wenn sie endlich in Norbert Raeders Kneipen-Wohnzimmer angekommen ist, fühlt sie sich in Sicherheit. Sie sagt: "Niemand da draußen akzeptiert mich so, wie ich hier akzeptiert werde."
Das Leben schlägt Wunden in die Seele und in den Körper, bei jedem Menschen, der älter wird. Gerda aber sagt, "ich jammer nicht, ich mecker nicht, und ich werde mich nie isolieren."
Woher nehmen die alten Singles den Mut zum Dableiben, Mitmachen, zum Miteinander?
Berlin hat über eine Million Singles, Menschen, die statistisch betrachtet in Einpersonenhaushalten leben. Berlin ist die Single-Hochburg des Landes, die Single-Senioren-Hauptstadt. Die allein lebenden Senioren über 70 Jahre sind bereits die größte Gruppe, aber es kommen große Single-Generationen hinterher. Die Zahlen sind eindeutig, der Trend ist unumkehrbar. Noch kennen die heutigen alt gewordenen Singles ein anderes Leben, die meisten von ihnen hatten Familien und Kinder. Sie können zurückblicken auf Beziehungszeiten, in denen sie liebten und stritten, sich scheiden ließen oder den Partner zu Grabe trugen. Mal waren diese Beziehungskisten öde, mal prickelnd, manche waren verstörend, manche betörend wie Blumen zum Hochzeitstag.
Aber diejenigen, die heute zwischen 40 und 50 Singles sind und bleiben werden, die statistisch gesehen zweitgrößte Singlegruppe - aus welchen Erinnerungsquellen werden sie im Alter schöpfen? Woher werden sie den Mut nehmen zum Dableiben, Mitmachen, zum Miteinander, das doch die Grundlage für eine menschliche Gesellschaft bildet?
Senioren in Berlin
Beziehungsstatus: Single
05.04.2012 Von Armin Lehmann
Mehr als eine Million Alleinstehende leben in Berlin, fast ein Drittel von ihnen ist älter als 60 Jahre. Pflegebedürftig sind die wenigsten, die größte Gefahr ist die soziale Isolation. Drei Beispiele für ein aktives Leben im Alter.
Sechs Tage in der Woche sammelt sie ihre Kräfte, diszipliniert und mit Vorfreude. Am siebten Tag geht sie hinaus ins Leben. Es ist aufregend, voller Menschen und Musik, es katapultiert sie in andere, längst vergangene Zeiten. Dieses Leben, das sie sich immer mittwochs gönnt, ist so schön, dass sie davon nicht genug bekommen kann.
In ein paar Tagen wird sie 90.
Gerda, die ihren Nachnamen für diese Geschichte nicht verraten hat, sitzt auf einem Stuhl, gleich neben der Live-Band "Simone und ihr flotter Dreier", ihr Stammplatz im Hinterzimmer einer von außen betrachtet ganz und gar unspektakulären Eckkneipe.
Simone und ihre Band spielen Wirtschaftswundermusik, fröhlichen Swing und Rock ’n’ Roll aus den 50er und 60er Jahren. Über das abgewetzte Parkett tänzeln Pärchen an Gerdas Stuhl vorbei, plötzlich hält Simone ihr das Mikrofon hin, und die kleine Frau, deren Rücken die Osteoporose in die Waagerechte gezwungen hat, singt: "Cindy, oh Cindy, dein Herz muss traurig sein, der Mann, den du geliebt, ließ dich allein."
Das Kastanienwäldchen in Alt-Reinickendorf, Residenzstraße, gleich gegenüber vom kleinen Schäfersee gelegen, ist keine gewöhnliche Eckkneipe. Fast jeden Tag ein Event, montags Western und Country, dienstags Karaoke, mittwochs Petticoat-Musik, donnerstags Rock ’n’ Roll und am Wochenende zweimal Disco zum Partymachen für die Jugend. Die Kneipe ist eine Art Flüchtlingslager für Menschen, die sich nach unkomplizierter Gesellschaft sehnen. Draußen im Kiez, dicht an den Wedding gepresst, steigt die Kriminalitätsrate und die Einkommensgrenzen rutschen herab.
Sie kommt seit Jahren in diese Kneipe. Hier hat sie das Gefühl: Alles ist gut
Das Gebäude des Kastanienwäldchens existiert seit 150 Jahren, es garantiert Stabilität und Konstanz im rastlosen Alltag. Einst war es das Schäferhaus, heute hütet der Wirt und ehemalige Vorsitzende der Partei Die Grauen, Norbert Raeder, 42, eine andere Herde: Es sind Leute, wie man sie noch aus Romanen von Hans Fallada oder Alfred Döblin kennt, ehrliche Leute, manchmal auch strauchelnde Existenzen, vom normalen Leben Gezeichnete, die zu Hause sind in den neuen Untiefen einer prekär gewordenen Klein-Bürgerlichkeit rund um die Residenzstraße und den Franz-Neumann-Platz. Das sind Norbert Raeders Schäfchen, und in seiner Kneipe können sie so sein, wie sie sind. Geht draußen auch vieles den Bach runter, zerbrechen Freundschaften, stirbt der Partner, macht die Firma dicht - im Kastanienwäldchen dürfen die Gäste sich dem beruhigenden Gefühl hingeben: Alles ist gut.
Es ist genau diese Atmosphäre einer lustig-lauten Gesellschaft, die Gerda gesucht hat wie ein Überlebenselixier. Sie ist allein. Schon seit so vielen Jahren, dass sie aufgehört hat, sie zu zählen. Aber hierher schleppt sie sich, von Heiligensee, im äußersten Nordwesten Reinickendorfs gelegen, erst mit dem Bus, dann mit der U-Bahn, ganz auf sich gestützt. So will sie es. Zurück wird sie gebracht, auch wenn sie es nicht gerne zulässt, sie gibt lieber statt zu nehmen. Wenn sie endlich in Norbert Raeders Kneipen-Wohnzimmer angekommen ist, fühlt sie sich in Sicherheit. Sie sagt: "Niemand da draußen akzeptiert mich so, wie ich hier akzeptiert werde."
Das Leben schlägt Wunden in die Seele und in den Körper, bei jedem Menschen, der älter wird. Gerda aber sagt, "ich jammer nicht, ich mecker nicht, und ich werde mich nie isolieren."
Woher nehmen die alten Singles den Mut zum Dableiben, Mitmachen, zum Miteinander?
Berlin hat über eine Million Singles, Menschen, die statistisch betrachtet in Einpersonenhaushalten leben. Berlin ist die Single-Hochburg des Landes, die Single-Senioren-Hauptstadt. Die allein lebenden Senioren über 70 Jahre sind bereits die größte Gruppe, aber es kommen große Single-Generationen hinterher. Die Zahlen sind eindeutig, der Trend ist unumkehrbar. Noch kennen die heutigen alt gewordenen Singles ein anderes Leben, die meisten von ihnen hatten Familien und Kinder. Sie können zurückblicken auf Beziehungszeiten, in denen sie liebten und stritten, sich scheiden ließen oder den Partner zu Grabe trugen. Mal waren diese Beziehungskisten öde, mal prickelnd, manche waren verstörend, manche betörend wie Blumen zum Hochzeitstag.
Aber diejenigen, die heute zwischen 40 und 50 Singles sind und bleiben werden, die statistisch gesehen zweitgrößte Singlegruppe - aus welchen Erinnerungsquellen werden sie im Alter schöpfen? Woher werden sie den Mut nehmen zum Dableiben, Mitmachen, zum Miteinander, das doch die Grundlage für eine menschliche Gesellschaft bildet?